Unternehmen der IT-Branche suchen verstärkt nach Frauen
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Frauen in der IT-Branche – ungenutztes Potenzial

Unternehmen der IT-Branche suchen verstärkt nach Frauen

08.09.2021
Gerd Meyring – Freiberuflicher Autor
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Frauen sind Naturtalente im Programmieren, stellte einst Grace Hopper fest. Die US-amerikanische Informatikerin entwickelte 1952 den ersten Compiler und leistete wichtige Vorarbeiten für die Entwicklung der Programmiersprache COBOL. Ihre Kollegin Margaret Hamilton gab Hopper 17 Jahre später recht. Ohne die von ihr entwickelte On-Board-Flugsoftware der Apollo-11-Mondmission wäre die Landung der ersten Menschen auf dem Erdtrabanten 1969 gescheitert.

In der IT-Branche ist nicht mal jede:r fünfte Beschäftigte eine Frau

Leider ist die Erkenntnis der 1992 verstorbenen Grace Hopper, die viele liebevoll „Grandma COBOL“ nannten, in Vergessenheit geraten. Heute sind nur 18 Prozent der Arbeitnehmer:innen in der deutschen IT-Branche Frauen. Von diesen hat sich einer Studie des Internetverbandes eco zufolge rund jede dritte auf Medizin-, Bio- oder Geoinformatik spezialisiert. Nur ein Viertel arbeitet in der Datenbankentwicklung und -administration. Noch weniger Expertinnen arbeiten im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI). Obwohl nur in den USA und China mehr KI-Forscher:innen und -Entwickler:innen tätig sind als in Deutschland, sind hierzulande nur 16 Prozent der Expert:innen in diesem Bereich weiblich.

In der Systemadministration beträgt der Frauenanteil sogar nur elf Prozent. Genauso wenig Frauen haben sich als IT-Freelancerin selbständig gemacht. Jede vierte freiberufliche Expertin arbeitet in der IT-Beratung, gut jede fünfte ist als Projektleiterin tätig.

IT-Unternehmen würden gerne mehr Frauen einstellen

Für Arbeitgeber ist diese Situation fatal. Denn sie würden gerne mehr Informatikerinnen einstellen. Nicht nur um mit ihrer Hilfe den Fachkräftemangel zu beheben. Vielmehr sind sechs von zehn IT-Unternehmen davon überzeugt, dass Frauen das Arbeitsklima positiv beeinflussen. Vier von zehn Betrieben schätzen es auch, dass Mitarbeiterinnen neue Ideen und andere Sichtweisen in die Projektarbeit und die Entwicklung von Anwendungen einbringen. „Die meisten Unternehmen suchen daher gezielt nach weiblicher Verstärkung für ihre Teams. Denn die Erfahrungen zeigen, dass gemischte Teams kreativer und kommunikativer arbeiten – und damit das Unternehmen wirtschaftlicher machen“, bestätigt der Präsident des Digitalverbandes Bitkom, Achim Berg. Einer Studie seines Verbandes zufolge würden acht von zehn Firmen mit mehr als 200 Mitarbeitenden gerne mehr IT-Fachfrauen einstellen. Auch 68 Prozent der Unternehmen mit 50 bis 199 Beschäftigten würden gerne mehr Entwicklerinnen und Programmiererinnen unter Vertrag nehmen.

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In Informatik-Hörsälen sitzen fast nur Männer

Das könnte noch lange ein Wunsch bleiben. Denn nur gut 20 Prozent der Informatik-Studierenden war im Wintersemester 2020/21 eine Frau. Lediglich in der Bio- und medizinischen Informatik liegt der Anteil nach Angaben des Statistischen Bundesamtes mit 40 Prozent höher. Von den jungen Menschen, die eine Ausbildung in einem Informatik-Beruf machen, sind sogar nur sieben Prozent Frauen. Bei jungen Männern ist „Fachinformatiker“ dagegen der zweit beliebteste Ausbildungsberuf.

Das Missverhältnis ist dabei nicht mit dem grassierenden Chauvinismus männlicher Kollegen zu erklären. In der Umfrage von eco gaben neun von zehn befragten Männern an, dass sie Angehörige beider Geschlechter im gleichen Maße für eine Karriere in Tech-Berufen geeignet halten.

IT-Fachfrauen sind mit ihrer Work-Life-Balance zufrieden

Dass junge Frauen nur selten IT-Berufe ergreifen, liegt auch nicht an den Arbeitsbedingungen in der Branche. Mehr als jede zweite Beschäftigte dort ist damit zufrieden, wie sie Beruf und Privatleben miteinander vereinbaren kann – unabhängig davon, ob sie in einer festen Anstellung oder freiberuflich tätig ist. Von den Freelancerinnen schätzen sogar drei von vier die Möglichkeit, ihre Zeit frei einteilen zu können. Genau so viele genießen es, ihre eigene Chefin zu sein.

Der Gender Pay Gap ist gewaltig

Allerdings tun sich 75 Prozent der freiberuflichen IT-Expertinnen mit der Akquise von Projekten schwer. Auch sind nur knapp sechs von zehn Freelancerinnen mit ihrem Honorar zufrieden. Unter den freiberuflich tätigen Männern geben das immerhin 72 Prozent an. Sie rechnen im Schnitt auch 9,27 Euro die Stunde mehr ab als ihre Kolleginnen und kommen dadurch auf ein durchschnittliches Nettoeinkommen, das mit 6118 Euro fast 2000 Euro höher ist als das freiberuflich tätiger IT-Fachfrauen.

Auch das allein reicht aber nicht, um den geringen Frauenanteil in der IT zu erklären. Die Psychologen Gijsbert Stoet von der Beckett University im britischen Leeds und sein Kollege David Geary von der Universität Missouri verweisen dazu vielmehr auf das sogenannte „Gender Equality Paradox“. Danach ergreifen Frauen in Ländern mit schwach ausgeprägtem Sozialsystem tendenziell häufiger gut bezahlte technische Jobs. In ausgeprägten Sozialstaaten folgen sie dagegen eher individuellen Interessen, auch wenn sich dies für sie nicht in einem höheren Gehalt „auszahlt“.

In Malaysia, Oman und der Türkei studieren mehr Frauen technische Fächer

Die Studie, mit der Stoet und Geary den Sachverhalt 2018 zu beweisen versuchten, ist zwar umstritten. Nationale Statistiken geben ihnen allerdings Recht. So sind ein Drittel der Informatikabsolvent:innen in der Türkei Frauen. In Malaysia und im Oman ist die Hälfte aller Ingenieur:innen weiblich. In den Vereinigten Arabischen Emiraten und Tunesien haben mehr Frauen als Männer ein Diplom in Mathematik, oder einer Natur- oder Ingenieurwissenschaft.

IT ist in Indien eine Form der Emanzipation

In Indien wiederum ist ein Drittel der Belegschaft in IT-Unternehmen weiblich. Wenn sie eine Programmiersprache beherrschen, können sich Frauen auf dem Subkontinent aus der Abhängigkeit vom Einkommen ihres Mannes sowie dem Zwang befreien, in ihren Familien körperliche Schwerstarbeit leisten zu müssen. Ein Job in der IT ist für sie somit eine Form der Emanzipation, stellt Professorin Roli Varma von der University of New Mexico in einer Studie fest.

In Großbritannien, Belgien, der Schweiz oder Schweden dagegen ist der Frauenanteil in Informatikberufen ähnlich gering wie in Deutschland. Anders als in Indien werden Mädchen dort häufig nicht bestärkt, wenn sie sich für Technik und IT interessieren. Bereits im Teenageralter ist ihnen daher oft der Spaß an Schulfächern wie Mathematik und Informatik vergangen, belegt die Studie „Women in Tech“, für die die Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers (PwC) gut 2100 britische Schüler:innen befragte.

In gemischten Klassen schätzen sich Mädchen schlechter ein

Zur mangelnden Freude kommt die Tatsache, dass Mädchen ihre Computerkenntnisse in Klassen, die sie gemeinsam mit Jungs besuchen, schlechter einschätzen als die ihrer Mitschüler. Dieses Selbstbild der Schülerinnen stimmt nicht mit ihren wirklich vorhandenen Kompetenzen überein. Die sind viel besser als Mädchen annehmen, ergab die aktuelle „International Computer and Information Literacy“-Studie (ICILS) für Deutschland. Sie wurde 2018 durchgeführt und ist das Pendant zur PISA-Studie im Computerbereich.

In Mädchenschulen gibt es dieses Problem nicht, hat die österreichische Professorin für Didaktik der Informatik Karin Gratiana Wurm beobachtet. Von ihren Abiturientinnen entscheidet sich ein zehnmal höherer Prozentsatz für technische oder naturwissenschaftliche Studiengänge.

Anderswo steuern Eltern und Lehrer jedoch zu wenig dagegen, wenn Mädchen ihre Computerkenntnisse, naturwissenschaftlichen und technischen Fähigkeiten falsch einschätzen. Auch Unternehmen tun offensichtlich zu wenig, um junge Frauen für technische und IT-Berufe zu begeistern. So zeigte eine Untersuchung des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung, dass sich neun von zehn Frauen nicht angesprochen fühlen, wenn in einer Stellenanzeige die zu besetzende Position im generischen Maskulin  – also als „Berater“ oder „Projektleiter“ – beschrieben wird. Das ist auch dann so, wenn dahinter die Ergänzung „m/w/d“ für „männlich / weiblich / divers“ steht. Finden sich in der Anzeige zu viele männlich konnotierte Adjektive wie „analytisch“ oder „entscheidungsfreudig“, triggert dies zudem die Neigung vieler Frauen, sich solch „maskuline“ Kompetenzen nicht zuzutrauen.

In der IT fehlt es an weiblichen Vorbildern

Ändern ließe sich dies nach Ansicht vieler Psycholog:innen, wenn Frauen mehr weibliche Vorbilder in technischen und IT-Berufen fänden. In einer Umfrage von Microsoft gaben 56 Prozent der teilnehmenden Mädchen an, sie würden eine Karriere in der IT einschlagen, wenn sie Frauen kennen würden, die dies auch getan haben. Nur elf Prozent aller Befragten kannten jedoch Frauen, die durch ihre Leistungen in Natur- oder Ingenieurwissenschaften berühmt geworden sind. Dagegen fielen jedem vierten Teilnehmenden zu der Frage prominente Männer ein.

Solange Schulen, Eltern und Arbeitgeber nicht mehr tun, um das Klischee zu korrigieren, das technische Begabung eine Männerdomäne ist, bleiben Frauen und Mädchen „das größte Potenzial, das Deutschland brach liegen lässt“, fasst der Vorstandsvorsitzende des Internet-Verbandes eco, Oliver Süme, zusammen. Grace Hopper hätte ihm wohl zugestimmt.

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