Scheinselbstständigkeit und die „funktionsgerecht dienende Teilhabe am Arbeitsprozess“

Erläuterungen zu einem Kardinalbegriff in der Argumentation der Deutschen Rentenversicherung Bund

Erläuterungen zu einem Kardinalbegriff in der Argumentation der Deutschen Rentenversicherung Bund
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Scheinselbstständigkeit und die „funktionsgerecht dienende Teilhabe am Arbeitsprozess“

Erläuterungen zu einem Kardinalbegriff in der Argumentation der Deutschen Rentenversicherung Bund

Dr. Benno Grunewald
Erläuterungen zu einem Kardinalbegriff in der Argumentation der Deutschen Rentenversicherung Bund

In allen Fällen, in denen es um die Scheinselbstständigkeit eines freien Mitarbeiters geht, steht die Frage nach der Weisungsgebundenheit und Eingliederung des Selbstständigen im Mittelpunkt. In vielen Fällen ist der Selbstständige nicht direkt für seinen Auftraggeber – häufig eine Unternehmensberatung - tätig, sondern erbringt seine Leistungen für ein anderes Unternehmen, dem so genannten Endkunden, zu dem der Selbstständige keine vertraglichen Beziehungen hat. Somit kann demnach von einer Eingliederung des Selbstständigen bei seinem Auftraggeber nicht die Rede sein. Und auch die Weisungsgebundenheit ist unter diesen Umständen nur schwer nachvollziehbar. Dennoch versucht die Deutschen Rentenversicherung Bund (DRB) auch in derartigen Konstellationen genau dies zu begründen. Hierzu bedient sich die DRB stets des Begriffs der „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“. Woher kommt diese Formulierung und was bedeutet sie?

Begriff stammt aus einem 1962 gefällten Urteil

Ursprung des Begriffs ist ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) aus dem Jahre 1962. Der diesem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt spielte sich sogar im Zeitraum 1945 bis 1953 ab. Inhaltlich ging es dabei um die Frage der Sozialversicherungspflicht eines selbstständigen Predigers im Bund Freier evangelischer Gemeinden!

Es darf wohl schon allein vor diesem Hintergrund sehr bezweifelt werden, ob die Erkenntnisse und juristischen Schlussfolgerungen des BSG aus dem Jahr 1962 heute – 50 Jahre später – tatsächlich und rechtlich noch relevant sind.

Selbstverständlich gibt es immer wieder Grundsatzurteile, die Dekaden überdauern und entsprechenden Einfluss haben können. Gerade in der insbesondere in den letzten 20 bis 30 Jahren einem rasanten und immer schnelleren Wandel unterworfenen Arbeitswelt können derartig alte Entscheidungen aber wohl kaum noch die Wirklichkeit abbilden bzw. erfassen.

Hintergrund des damaligen Urteils

Dennoch zitiert die DRB nach wie vor dieses Urteil aus dem Jahre 1962. Dabei reißt sie den Begriff aus dem Zusammenhang, der für seine Definition aber von entscheidender Bedeutung ist:

Wie oben bereits erwähnt, war Gegenstand der Entscheidung des BSG die Tätigkeit eines selbstständigen Predigers im Bund Freier evangelischer Gemeinden in den Jahren 1945 bis 1953. Für diese Tätigkeit erhielt der Prediger von der Gemeinde Barbezüge in Höhe von monatlich 225 DM; ferner wurde ihm eine Dienstwohnung gestellt. Der Prediger hatte keinen Vorgesetzten und konnte seine Tätigkeit grundsätzlich frei gestalten. Allerdings war sein Aufgabengebiet klar abgegrenzt und es stand „nach Übung und Herkommen … im wesentlichen fest, was das Amt des Predigers … als eine besondere Form kirchlicher Gemeinschaft an Dienstleistungen erforderte.“

Auf der Grundlage dieser Feststellungen kommt das BSG dann zum Ergebnis „je weniger das Direktionsrecht des Arbeitgebers in Gestalt ausdrücklicher Weisungen in Erscheinung tritt, je mehr der Arbeitnehmer bei der Gestaltung seiner Arbeit auf sich selbst gestellt ist, um so größeres Gewicht erhält das Merkmal der Eingliederung in einen übergeordneten Organismus für die Abgrenzung zwischen abhängig geleisteter Arbeit und selbstständig verrichteten Diensten. Die Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers verfeinert sich in einem solchen Fall zur funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozeß“.

Begründung auch auf IT-Freiberufler anwendbar?

Diese juristische Quintessenz des BSG mag in diesem Fall im Jahre 1962 insbesondere vor dem damaligen historischen, gesellschaftlichen und fallspezifischen Hintergrund zutreffend sein – sie taugt aber nicht im Jahre 2012 zur Begründung eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses eines selbstständigen IT-Beraters, der über eine Unternehmensberatung für eine Firma projektbezogen – und damit befristet – tätig ist.

Und: Das BSG hatte im oben beschriebenen Fall des selbstständigen Predigers über einen Sachverhalt zu entscheiden, in dem der Selbstständige unmittelbar und direkt für seinen Auftraggeber tätig und in dessen Betriebsorganisation vermeintlich eingegliedert war. Ungeachtet dieses Sachverhalts wendet die DRB diese Entscheidung vollkommen ungerührt auf Fälle an, in denen der Selbstständige eben gerade nicht direkt sondern über einen Dritten tätig wird.

Hier – und dies gilt insbesondere für den IT-Bereich und die dort tätigen zumeist hochspezialisierten Selbstständigen - besteht weder tatsächlich noch rechtlich ein Weisungsrecht des Auftraggebers. Und auch der Endkunde erteilt dem Selbstständigen keine Weisungen, sondern schildert bestenfalls seine Probleme, die der Selbstständige auf seine Art und Weise und mit seinem Fachwissen lösen soll.

Ohne Weisungsgebundenheit keine „funktionsgerecht dienende Teilhabe am Arbeitsprozess“

Existiert aber keine Weisungsgebundenheit, so kann sich diese auch nicht zu einer „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinern. Wird dieser Begriff unter solchen Umständen benutzt, stellt er nur noch eine leere Hülle dar: kern- und kraftlos und ohne jeglichen inhaltlichen Gehalt.

Insbesondere kann die DRB diesen Begriff dann in der oben dargestellten Konstellation „Selbstständiger – Unternehmensberatung – Endkunde“ auch nicht (mehr) dazu benutzen, quasi über den Endkunden die angebliche Weisungsgebundenheit des Selbstständigen gegenüber seinem Auftraggeber zu begründen. Und damit entfällt ein wesentliches Argument der DRB für die Annahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung.